Web 2.0 und die Geschichtswissenschaften – Einige Gedanken zur Tagung in Siegen

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Das war sie also, die erste öffentliche Veranstaltung zum Thema „Web 2.0 und Geschichtswissenschaft“ in Deutschland. Sie war spannend und verlief in einer angenehmen Atmosphäre.

Versammelt war, wie mir scheint, die bereits bestehende Community der Webakteure aus der Geschichtswissenschaft, die sich mit den methodischen und inhaltlichen Problemen des Mediums Web beschäftigen. Unter anderem Peter Haber von histNet, Rüdiger Hohls von H-Soz-u-Kult und dem docupedia-Projekt, Thomas Wolf von archivalia und vom Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein, Manfred Thaller von der Uni Köln und Gregor Horstkemper von der Bayerischen Staatsbibliothek. Insgesamt gut 30 Personen. Die erste Erkenntnis, die ich mit nach Hause nahm, ist die Überschaubarkeit des Aktivistenkreises. Auf der Tagung fielen nur wenige weitere Namen:  das Wiener Team von Wolfgang Schmale und Jakob Krameritsch und last but not least Anton Tantners Blog adresscomptoir.  Vielleicht kommt demnächst Siegen als neuer Knoten webtheoretischer Auseinandersetzung dazu? Wer weiß.

Verschiedene Projekte und Erfahrungen wurden vorgestellt. Diskutiert wurden u. a. die Chancen von Wiki Source, die  Herausforderungen für Bibliotheken und Archive. Dazu gibt es eine Reihe guter und lesenwerter Tagungsberichte im Netz (s.u.).

Rüdiger Hohls fasst dort sehr treffend zusammen, dass es den Organisatoren Jürgen Beine und Angela Schwarz

weniger um technische Aspekte [ging] als vielmehr um Formen der sozialen und kulturellen Aneignungen und um die Veränderung geschichtswissenschaftlicher Diskurse und Methoden, wenn sich die bisherige eindeutige Beziehung zwischen Text und Autor durch Web 2.0-Anwendungen aufzulösen beginnt.

Hohls meint weiter, es wäre vielleicht passender gewesen,

wenn im Veranstaltungstitel entweder vereinfachend „Geschichte“ wegen der unübersehbaren Nähe zum laienhistorischen Engagement oder der Plural „Geschichtswissenschaften“ angesichts der epochalen, regionalen und thematischen Spezialisierung gestanden hätte. Es macht nämlich einen großen Unterschied, über welche Zielgruppe, welche Kohorten und über welchen Erfahrungs- und Referenzraum der Akteure und Rezipienten diskutiert wird. Die kommunikativen Prozesse innerhalb einer spezialisierten und vergleichsweise homogenen Expertenkultur folgen anderen Erwartungen und Regeln als die in einer Lehr- und Vermittlungssituation von Seminaren und wiederum anderen, wenn es um Teilhabe und Integration eines historisch interessierten Laienpublikums geht. Web 2.0 scheint mir derzeit vor allem Anwendungen bereitzustellen, die für eine Wiederbelebung von Geschichtswerkstätten im globalen Dorf des Internets besonders geeignet sind, also für eine neue Art partizipatorischer „Geschichte von unten“.

Damit sind wir natürlich mitten im Interessensgebiet von kritische-geschichte.de gelandet. Gerade mit dem Web 2.0 öffnet sich ein völlig neuartiger Kommunikationsraum, den es zu gestalten gilt.  Mit neuen Problematiken, etwa die Frage, wie wir mit Quellen umgehen, die zuerst im Netz entstehen? Kann man aus wissenschaftlicher Sicht Wikisource zur Publikation von Dokumenten nutzen? Was bedeutet es, wenn Nutzer („der Laie“)  dort Inhalte bewerten und kategorisieren usw. Hier gibt es eine gedankliche Trennung von innen und außen, die meiner Meinung nach so nicht mehr funktioniert.

Das heißt, mit dem Web 2.0 geht es wieder einmal um die Definitionshoheit, was wie von wem diskutiert und bewertet wird. Und es ist mir ja durchaus nachvollziehbar, dass Angehörige der Fachdiziplin diesen Prozess „kontrollieren“ wollen. Allein: Dieses Ansinnen ist völlig aussichtslos. Ja doch, es fiel tatsächlich mehrmals das Wort  „Kontrolle“ oder „kontrollierte Bedingungen“. Das war zwar in Siegen weit weniger restriktiv gemeint, als es jetzt daherkommt. In der Webrealität kann aber von einer „Kontrolle“ im klassischen Sinne gar keine Rede mehr sein. Im offenen Web erfolgt Qualitätssicherung ganz anders; über lange Aushandlungs- und Rationalisierungsprozesse, Aufbau von Reputationsnetzwerken, wie man sie bei der Wikipedia beobachten kann.  Das heißt viel Arbeit, bietet aber jede Menge Chancen praktischen Engagements.

Kontrolle? Für Historikerinnen und Historiker gibt es da zukünftig bestenfalls ein „Begleiten“. Das ist zugegeben nicht so leicht zu akzeptieren, wenn man sich in der deutschen Fachkultur bewegt, die nach wie vor die Erhaltung ihres Status über die manchmal haltlose Unterscheidung von Experten- und Laienkultur versucht.

Wer ist denn genau Laie? Wir bilden im Jahr Tausende von Historikerinnen und Historikern aus; Tausende anderer Sozialwissenschaftler. Diese arbeiten in Lehrberufen oder sonst wo. Richtig, sie sind keine Berufswissenschaftler und landen nicht an der Universität oder im geschichtspolitischen Establishment. Diese Leute sind aber, und darauf hat Thaller hingewiesen, möglicherweise für die Geschichte ihrer Stadt oder andere Themen richtige Experten mit Fachausbildung im Hintergrund. Und sie sind im Netz aktiv: als Privatpersonen in facebook, Regional-Wikiautoren, Blogbetreiber. Als Autoren umfassender Artikel und Bücher, die vielleicht schon bald als open books zu kriegen sind. Hinsichtlich der Vermittlung von Inhalten sind dagegen einige Angehörige der Universitäten blutige Laien. Das heißt, wir kommen schon hier mit dieser Trennung nicht wirklich weiter. Und sie wird über den dezentralen Charakter des Web 2.0 weiter aufgelöst.

Ich halte für mich fest: Historikerinnen und Historiker, mit und ohne Uni-Stellen, bleiben durch das Web 2.0 ernsthaft gefordert, müssen ihre Erfahrungen, ihren Sachverstand einbringen. Man kann sich auch aus den Umwälzungen der Medienlandschaft raushalten, doch die Entwicklung aufhalten oder kontrollieren wollen ist verschwendete Energie.

Auf der Tagung schwirrten noch zwei Begriffe durch den Raum: „Public History“ und „Digital Historian“. Möglicherweise gibt es demnächst eine Gruppe von Menschen, die wir als public digital historians bezeichnen müssen. Diese entwickeln  neue kollaborative Arbeitsweisen, entwickeln ein neues Aufgabengebiet, formulieren aber auch ein neues Selbstverständnis.

Selbstverständnis. Peter Haber hat mich ja ein wenig kritisiert: „Leider blieben seine Ausführungen etwas an der Oberfläche und gingen auf die Anforderungen und Bedürfnisse wissenschaftlicher Arbeitsweisen kaum ein.“ Das ist völlig richtig, wenn man die Tätigkeit des berufsmäßigen Forschers im Blick hat. Die zu erwartenden Fragen wie die der Quellenkritik, Probleme kollaborativen Kategorisierens, „Information Retrieval“ oder hypertextuellen Schreibens sind schon gestellt und waren auf der Tagung unter anderen durch Peter Haber abgedeckt ;-) Hier konnte und wollte ich tatsächlich nichts neues erzählen.

Was ist aber mit denjenigen, die über das Web vermittelt öffentlich „forschen“? Was ist mit denjenigen, die dort Ideen formulieren, sammeln, weiterentwickeln bis vielleicht einmal ein tragfähiger Text herauskommt? Sie bewegen sich in einem ganz anderen Arbeitsumfeld. Sie müssen lernen, als Publizisten einem dezentralen Netzwerk zu denken, entsprechende Strategien entwickeln. Ich mag mich irren, aber meiner Meinung nach sind die Rahmenbedingungen dort noch gar nicht richtig begriffen, weil sie sich erst entwickeln und ständig verändern. Ihre Arbeitsweise kann in der Tendenz nicht anders als eine wissenschaftliche sein, weil in den Debatten der Netzwelt langfristig – entgegen der allgemeinen Auffassung – überwiegend diejenigen  Argumente übrigbleiben, die besser belegt, nachvollziehbarer dargestellt sind. Erfolgreiches Arbeiten im Netz zwingt zur Nutzerorientierung, bedeutet aber nicht unbedingt einen Qualitätsverlust. In langfristigen Projekten wie Wikisource sowieso nicht.

Deswegen sind neuen Curricula oder Studiengänge in Richtung Onlinejournalismus für Historiker vielleicht keine schlechte Idee. Doch wichtiger finde ich – ceterum censeo – die Fokussierung auf die Frage „Wozu Wissenschaft?“ Und damit sind wir bei dem viel weiteren Wissenschaftsbegriff  einer „eingreifenden Wissenschaft“ im Sinne Bert Brechts gelandet, bei er Förderung einer „wissenschaftlichen Diskussionsweise“ in der Öffentlichkeit, wie es Gramsci nennt. Hierbei geht es nicht darum, die Öffentlichkeit mit Segnungen von Intellektuellen zu bedenken, sondern Wissenschaft als Hilfestellung zur Veränderung zu verstehen.

Das muss nicht jeder als sein Aufgabengebiet verstehen. Aber die public digital historians werden die Institutionen der Fachwissenschaften dringend benötigen. Und diese werden sich dazu öffnen und neu organisieren.  Das mag jetzt noch keine tiefgehende Erkenntnis sein. Mein Eindruck ist jedoch, dass sich nicht zuletzt das Verständnis ändern muss. Weg von den Bedrohungsszenarien hin zum Ergreifen der Chancen des Web 2.0.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung in Siegen sind dafür die richtigen Bündnis- und Ansprechpartner.

Ich soll zu dieser Thematik noch einige Thesen vorstellen. Zu finden demnächst hier und im histNet-Wiki, das in jedem Fall einen Besuch lohnt :-)

Die Berichte und Debatten:

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8 Antworten to “Web 2.0 und die Geschichtswissenschaften – Einige Gedanken zur Tagung in Siegen”

  1. Wolf Thomas Says:

    Nur eine kurze Präzisiserung: Ich war nicht (nur) für Archivalia auf der Tagung, sondern (auch) für das Kreisarchiv Siegen-Wittgenstein.

  2. kritischegeschichte Says:

    Alles klar. Habs ergänzt. Freu mich auf den weiteren Austausch.
    Richard Heigl

  3. Zeitreisen-Blog Says:

    Wo sind die bloggenden Professoren und Doktoren? Bis jetzt habe ich niemanden gefunden, der sein Wissen und seine Forschung auch einem breiten Publikum vorgestellt hat. Das Interesse wäre bestimmt da. Ein Online-Geschichts-Lexikon, von Wissenschaftlern erstellt, wäre die Alternative zu Wikipedia. Und hochqualitative Geschichtsbeiträge im Internet könnten leicht das Knoppsche Geschichtsmonopol brechen.

    Doch was Deutschland fehlt, meiner Meinung nach, sind Historiker, die gerne für das breite Publikum schreiben und sich um die „Vermarktung“ ihres Wissens kümmern.

    Solange bei den Geschichtslehrstühlen kein neuer Wind weht, werden deutsche Geschichtswissenschafler weiterhin eine exzellente Forschung betreiben – für einen auserwählten Kreis -, während die „public digital historians“ (der Name gefällt mir) mit ihren Geschichtsinterpretationen das Internet beherrschen werden.

    • kritischegeschichte Says:

      docupedia is ein solches Online-Geschichts-Lexikon. Das heißt, das soll eins werden (Launch voraussichtlich Februar 2010, sagt Rüdiger Hohls).

      Und ich bin völlig deiner Meinung, dass ein anderer Wind wehen muss / müsste. Im Unterschied zu früher entsteht aber über Web 2.0 auch ein enormer Druck in diese Richtung. Bei den klassischen Printmedien sah ich deren Wirkungen und Debatten nicht. Das wird nun tendenziell anders. Und: Dieser neuartige Kommunikationsraum ist nicht mehr „außen“. Jeder nutzt ihn (wer schaut nicht bei Wikipedia nach?). Es gibt Knoten an denen man regelmäßig auftauchen muss, um wahrgenommen zu werden, die aber auch relativ gut gestaltbar sind: Man kann in einem Regionalwiki selbst Einträge machen etc. Insofern liegt es nahe, sich im Web 2.0 wirklich zu Wort zu melden.

      Meiner Meinung nach wird es Kreise von Leuten geben, die diese Knoten organisieren und beispielsweise über Blogs Inhalte der Forschung vermitteln, sofern die Berufshistorikerinnen und -historiker das nicht selbst tun.

      Es wird auf jeden Fall interessant.

      Richard Heigl

  4. Tim Says:

    Interessantes Thema. Ist auch jemand auf die Bedeutung des Web2.0 (ugc) als Quelle für zukünftige generationen von historikern eingegangen? Hier dokumentiert sich Alltagskultur.

  5. Tagung “Web 2.0 und Geschichtswissenschaft” : digiversity — Webmagazin für Informationstechnologie in den Geisteswissenschaften Says:

    […] Hohl (docupedia) und Richard Heigl (kritische-geschichte.de) kommentieren die Tagung in ihren Blogs, was auch wiederum Peter Haber nochmals zu einem zweiten […]

  6. Zur Geschichts-Weblog Debatte « kritische geschichte Says:

    […] um Proflierung im Sinne von Rechthaberei und Pöstchen und fast nie um die Sache geht. Die public digital historians, die mir vorschweben, sind engagierte Beiträger und Vermittler, keine […]

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