Der bürgerliche Staat – Thesen zur historischen Entwicklung

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H. Gerstenberger, Q: Dampfboot Verlag

Die Beschäftigung mit Staat und Staatstheorien hat spätestens dann Konjunktur, wenn Emanzipationsbewegungen Zugriff auf die Institutionen staatlicher Gewalt erhalten und entsprechende Hoffnungen in „den Staat“ setzen. Dieser Nachfrage begegnet jetzt der lesenswerte Reader Staatsfragen. Einführungen in die materialistische Staatskritik, herausgegeben von der Associazione delle Talpe und der Rosa-Luxemburg-Stiftung Bremen.

Die gängigen Staatstheorien müssen aber durch sozialgeschichtliche Forschung geerdet werden. Denn

  1. lassen sich erst aus der Bestimmung der konkreten historischen und sozialen  Situation  konkrete und begründbare Handlungsoptionen aufzeigen,
  2. ist die historische Forschung ein gutes Korrektiv für Simplifikationen.

Ein hervorragendes Beispiel liefert hierzu der Beitrag von Heide Gerstenberger, eine gesellschaftspolitisch aktive Historikerin, die sicher dem einen oder anderen schon lange bekannt ist – für mich persönlich eine Entdeckung. In ihrem Artikel „Der bürgerliche Staat“ liefert sie „Zehn Thesen zur historischen Konstitution einer spezifischen Form moderner Staatsgewalt.“

Sie zeigt darin in aller Kürze die Wurzeln des heutigen Staatssystems im Ancient Régime auf. Gerstenberger liefert unter anderem  Hinweise, warum in dieser Epoche noch nicht von „Klassen“ gesprochen werden kann und ihre Thesen versuchen die Komplexität des Übergangs zum modernen bürgerlichen Staat einzufangen.

Gerstenberger sieht in der Einführung von Steuern ein wichtiges Strukturmerkmal des Ancient Régimes. Die Steuern finanzierten aber noch keinen Staatsapparat, wie wir ihn heute kennen. Vielmehr flossen die Mittel in ein System zentralisierter persönlicher Herrschaft. Darin vergaben Fürsten Ämter an Adelige, um sie an sich zu binden. Entsprechend kritisierten die bürgerlichen Revolutionen die Auswüchse der „Old Corruption“, wie es im England des 19. Jahrhunderts hieß. Die Kritik an den Auswüchsen führte konsequenterweise weiter zu einer grundsätzlichen Kritik an der privaten Nutzung von Amtsgewalt. Man sieht es schon kommen: Hier liegen Wurzeln einer bürgerlichen Vorstellung vom „neutralen“ Staat, der nicht durch personale Herrschaft und Willkür gekennzeichnet ist.

Und tatsächlich schreibt Gerstenberger etwas weiter:

Im Laufe der Zeit richteten sich Forderungen aber nicht mehr nur auf die Beschränkung königlicher Willkür, vielmehr entwickelte sich das Konzept einer ganz und gar herrschaftsfreien Sphäre. Viele haben unterstellt, im Zentrum dieser neuen Konzeption habe die Forderung nach einer herrschaftsfreien Sphäre des Marktes gestanden. Das ist – trotz des langen Kampfes um die Anerkennung von Privateigentum – aber nicht der Fall.

Statt dessen erhielt das Konzept einer herrschaftsfreien Sphäre seine wichtigste Prägung in jenen Herrschaftskrisen, die durch die Reformation ausgelöst wurden. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Reformation ging es bekanntlich um Kirche, aber keineswegs immer um die Praxis des rechten Glaubens. Dennoch erwuchs aus diesen Kämpfen auch der Anspruch, sich die eigene Glaubenspraxis nicht länger durch fürstliche Herrschaft vorschreiben zu lassen, und dies nicht nur bei Angehörigen der jeweiligen Diaspora, sondern auch bei Angehörigen der in einem Herrschaftsbereich offiziell geltenden Konfession.

Die hier genannte Bedeutung der Reformation ist ein sehr spannender Ansatz, den ich bewusst beseite lasse. Ebenso ist klar, dass sich hinter religiösen Konflikten immer auch ökonomische Interessen verbergen oder sich damit kombinieren lassen. Aber Gerstenberger geht es um ein Geschichtsbild, das nicht ökonomistisch von einer „Notwendigkeit“  des Marktes oder von einer neuen Produktionsweise her argumentiert.

Karl Reitter hat an anderer Stelle und mit Bezug auf Gerstenbergers Ansatz sehr treffend geschrieben:

Das Zerbrechen und die Zersetzung dieser Feudalität erklärt [auch] Marx nun keineswegs funktional mit den Bedürfnissen des aufkeimenden Kapitalismus, sondern primär aus revolutionären, emanzipatorischen Bestrebungen. Das Resultat war eine halbierte Emanzipation, eine Sackgasse, die sich in der endgültigen Trennung von bürgerlichem, ökonomischem Dasein und der abstrakten politischen Existenzweise als StaatsbürgerInnen verfestigte.

Und Gerstenbergers Ansatz ist, analytisch zuerst die konkreten Kämpfe in den Blick zu nehmen: Es sind Kämpfe um alle möglichen Formen der Selbstbestimmung, die, wie sie zeigt, erst zu einer bestimmten historischen Phase möglich und nötig werden. Das Beispiel des Kampfes um Glaubensfreiheit und um Schutz der Privatsphäre zeigt, dass Eingriffe in die Alltagswelt und in die Lebensweise häufig Ausgangspunkte für sehr langfristigen Widerstand sind.

Das heißt aber auch, dass der heutige bürgerliche Staat immer auch das historische Ergebnis von Emanzipationskämpfen ist, nicht einfach Herrschafts- oder Unterdrückungsinstrument. Zwar mündeten diese sehr widersprüchliche Entwicklung in die heutige Ideologie des neutralen und fürsorglichen Staates. Diese Ideologie kann aber nur aus den darin enthaltenen Emanzipationsansprüchen  an Überzeugungskraft gewinnen.  Und das ist nicht so leichtfertig vom Tisch zu wischen.

Aber welche Rolle spielte der moderne bürgerliche Staat bei der Etablierung einer kapitalistischen Klassengesellschaft? Natürlich eine zentrale. Aber Gerstenberger warnt schlicht davor, bei der historischen Analyse die Reihenfolge durcheinander zu bringen:

Bürgerliche Revolutionen waren Prozesse der Enteignung von personaler Herrschaft, von Amtseigentum und von Privilegien. Damit verloren die Mittel der Herrschaft ihren Charakter als Instrumente von Aneignung. […] Aus dieser Reduktion von Herrschaft auf Politik folgte die Emanzipation des Marktes und damit die Konstitution struktureller Voraussetzungen für die Dominanz kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die Konstitution bürgerlicher Staatsgewalt hat diese Entwicklung ermöglicht, aber nicht unmittelbar zur Folge gehabt. Überall schufen bürgerliche Revolutionen Marktgesellschaften, aber nicht überall dominierte in diesen Gesellschaften kapitalistische Produktion.

Man sieht, auf jeden Fall anregende Thesen, die auch den Bedarf einer neuen Erforschung der staatlichen Entwicklung aufzeigen; nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung und des aktuellen Formwandels des Nationalstaats.

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Eine Antwort to “Der bürgerliche Staat – Thesen zur historischen Entwicklung”

  1. Im Handgemenge der Vergangenheit: Ellen Meiksins Wood « kritische geschichte Says:

    […] In diesem Blog haben wir übrigens ein weiteres Beispiel, das zeigt, wie wichtig es ist, analytisch zuerst die konkreten gesellschaftlichen Kämpfe in den Blick zu nehmen: Der bürgerliche Staat – Thesen zur historischen Entwicklung […]

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