Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz

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Dieses Buch gehört nicht nur in jeden Historiker(innen)-Haushalt, sondern auch unbedingt gelesen. Das Buch Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung (Campus Verlag, 2010) sammelt zentrale Beiträge des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty aus den letzten zehn Jahren – Chakrabarty ist ein Vorreiter der postkolonialen Geschichtsschreibung, genauer ein Hauptvertreter der Subaltern Studies.

Die Kleine Geschichte der Subaltern Studies veranschaulicht Ursprünge der Subaltern Studies Group in den 1980er Jahren. Dabei rekonstruiert Chakrabarty vorallem Ansätze seines akademischen Lehrers Ranajit Guha. Während sich die indische Nachkriegsgeschichtsschreibung stritt, ob die nationale Entwicklung Indiens eher eine Errungenschaft der britischen oder der indischen Eliten war, interessierte sich Guha schnell für die „subalternen“, vergessenen Klassen. Ein  Ansatz, der gut in die Geschichtsbewegungen der 1980er Jahre und ihrer „Geschichte von unten“ passte. Allerdings entwickelte Guha eigene Positionen und Herangehensweisen.

Ein neues Bündnis im Kampf um eine selbstbestimmte Entwicklung

Ein entscheidender Schritt Guhas war, die Geschichte der Macht in der globalen Moderne zu pluralisieren und von jeder Universalgeschichte des Kapitals abzutrennen:

Er [Guha] bestreitet nicht, dass zwischen dem kolonialen Indien und den globalen Kräften des Kapitalismus Verbindungen bestehen. Aber er beharrt darauf, dass die globale Geschichte des Kapitalismus sich nicht überall in Gestalt  ein- und derselben Machtgeschichte reproduziert. (31)

Das bedeutet, die indische Geschichte war für Guha weit mehr als nur eine Variation der globalen kapitalistischen Expansion. Sie folgte ihren eigenen Gesetzen. Und Guha wies jede westliche Sicht ab, die subalterne indische Bewegungen als nicht handlungsfähig oder reif genug zeichneten. Sie konnten ihr Geschick selbständig in die Hand nehmen und zu den globalen Projekten eigene Beiträge leisten.

Den von Guha inspirierten Subaltern Studies ging es also um Selbstbehauptung gegenüber allen möglichen Formen der Vereinnahmung und Unterdrückung. Die Subaltern Studies verteidigten die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der indischen Demokratiebewegungen gegenüber den Eliten. Sie pochte aber auch gegenüber dem westlichen Marxismus auf ihre intellektuelle Eigenständigkeit. Wenngleich sie unverrückbar in dessen Tradition standen.

Chakrabarty fordert in seinem bekanntesten Artikel Europa provinzialisieren ein neues geschichtspolitisches Projekt. Er sieht die „Möglichkeit einer Bündnispolitik und eines Bündnisprojekts zwischen den herrschenden metropolitanen Geschichten und den subalternen Vergangenheiten der Peripherie“. (61) Das wäre in der Konsequenz ein weltweites Bündnis derjenigen, die die Welt von unten verändern möchten.

Dazu fordert er die Historikerinnen und Historiker auf, Europa zu „provinzialisieren“. Europa wäre in diesem Gedankengebäude eine Provinz des globalen Ganzen, das erst noch geschaffen werden muss. Allerdings macht Chakrabarty auch eines klar:

Zunächst einmal fordert es [das Projekt] keine simple und pauschale Ablehnung der Moderne, liberalen Werten, Ansprüchen auf universelle Gültigkeit, Naturwissenschaft, Vernunft, große Erzählungen, totalisierenden Erklärungen und dergleichen. […] Das Projekt „Europa provinzialisieren“ kann daher kein Projekt des „kulturellen Relativismus“ sein. Es kann nicht aus der Haltung hervorgehen, dass Vernunft, Wissenschaft und der Anspruch auf Universalität, die dazu beitragen, Europa als das Moderne zu definieren, einfach „kulturspezifisch“ sind und daher nur den europäischen Kulturen angehören“. (62)

Ihn interessiert, „wie und durch welchen historischen Prozess der Eindruck […] erweckt werden konnte, dass die „Vernunft“ der Aufklärung auch weit über den Ort hinaus, an dem sie entwickelt wurde, „offenkundig“ sei. – Chakrabarty betont in dieser Formulierung bewusst die Ambivalenz des Aufklärungsprojekts (ich befürchte allerdings, dass „obvious“ mit „offenkundig“ übersetzt wurde und in der deutschen Fassung die ursprüngliche Bedeutung nicht vollständig widergegeben wird).

In den Beiträgen Minderheiten, Geschichte, subalterne Vergangen-heiten und vor allem in Subalterne Geschichten und nachaufklärerischer Rationalismus, erläutert Chakrabarty ausführlicher, warum ein kritischer Umgang mit dem Erbe der Aufklärung für den Kampf um eine Demokratisierung der Geschichtsschreibung von Bedeutung sei.

Das schwierige Erbe der Aufklärung – und der Religion

Zunächst erinnert Chakrabarty an ein altes Problem der Emanzipationsbewegungen: Der Umgang mit Religion und Mythen in politischen Kämpfen. So finden sich in subalternen Kämpfen immer wieder Bezüge zu Gottheiten, wie etwa im Santal-Aufstand von 1855, die ihre Aktionen mit einem Auftrag der Gottheit Thakur begründeten. Es ist für Chakrabarty zu einfach, dabei von einem reaktionären, „vorpolitischen“ oder einfach falschen Bewusstsein zu sprechen. Vielmehr möchte er wissen – wenn ich Charabarty richtig verstehe -, warum dieser religiöse Bezug nötig und möglich wurde. Dazu müssen aber in seinen Augen auch jene Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit anerkannt werden, die nur schwer auf den Begriff gebracht werden können.

Den Irrationalismus ausschließlich mit einem Hyperrationalismus zu bekämpfen hält Chakrabarty für wirkungslos. Das ist für ihn auch eine Frage der Pragmatik: „[…] so unangenehm uns die Kategorie der Religion auch sein mag, sie ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil des indischen politischen Lebens“. (92) Dabei steht für ihn außer Frage, dass mystische oder religiöse Elemente niemals als Bestandteil der Position des Historikers in die akademische Geschichtsschreibung eingehen können. Und er schreibt: „Wir können Geschichte nicht von dem Standpunkt aus schreiben, den wir für ihre Glaubensüberzeugung halten“. (79) Doch diese Erzählungen und Fiktionen sind wirkmächtig. Deswegen fragt Chakrabarty weiter: „Hilft der Santal uns dabei, ein Prinzip zu verstehen, nach dem auch wir gelegentliche Leben?“ (81) Das heißt, Chakrabarty will sich an eine subalterne Geschichtsschreibung herandenken, die wirklich etwas von den Subalternen zu lernen versucht. (105) Und damit spricht er Themen an, die bereits von Walter Benjamin oder Ernst Bloch angesprochen wurden – auf die sich Chakrabarty aber nicht bezieht.

Schwierigkeiten habe ich mit Chakrabartys Begriffen „Totalität“ und „totalisierend“.
Er meint, man müsse den ganzheitlichen Entwürfen und Denkmodellen fragmentarische und episodische entgegenstellen. Wahrscheinlich um so Raum für eigenständige Denkbewegungen und Lernprozesse zu schaffen. Vor allem aber sollen nicht rational erfassbare Motivationen in die Analyse einbezogen werden können. Die grundsätzliche Idee Chakrabartys ist unstrittig. Ich wundere mich nur über seine Frontstellung gegenüber dem Marxismus an dieser Stelle. Aus meiner Sicht überdeckt etwa der Begriff der Totalität im Denken von Marx die Differenz und Handlungsspielräume gerade nicht. Die Totalität erklärt vielmehr, warum auch in einer extrem vielfältigen Welt kleinste Handlungen Wirkung erzielen können. Weiter gibt es Ansätze eines „Pluralen Marxismus“ (Wolfgang Fritz Haug), die leider gar nicht zur Sprache kommen. Und auch zu den anthropologischen Dimensionen des Politischen wäre eine lange Reihe unorthodoxer (!) marxistischer Literatur aufzuführen. So bleibt die Vermutung, dass sich Chakrabarty streckenweise an der dominanten strukturalistischen Strömung des Marxismus abarbeitet. Dabei wäre es wünschenswert, sich nicht nur die Heterogenität der Subalternen, sondern auch der Marxismen in Erinnerung zu rufen. Das aber nur nebenbei.

Zurecht wehrt sich aber Chakrabarty gegen Traditionen des marxistischen Denkens, die befürchten, eine Kritik des europäischen Erbes der Aufklärung würde den Faschisten, in seinem Fall den rechtsextremen Hindus, Vorschub leisten. Dass sich der europäische Faschismus die Enttäuschung über den nachaufklärerischen Rationalismus zu Nutze machte, lässt aber für Chakrabarty nicht den Umkehrschluss zu, dass jede Kritik am nachaufklärerischen Rationalismus zwangsläufig im Faschismus ende. Und:

Es ist nicht zu bestreiten, dass die Linksintellektuellen des Westens durch die Erfahrung des Faschismus traumatisiert wurden. Sie haben seither alle poetischen, mystischen, religiösen und mysteriösen Momente in der Konstruktion politischer Überzeugungen und Gemeinschaften (und seien sie noch so vergänglich und unwirksam) den Faschisten überlassen. Jede Romantik gemahnt sie seither nur an die Nazis. Der romantische Nationalismus in Indien hingegen hat uns ein anderes Erbe hinterlassen, das beispielhaft durch die Lebensexperimente seiner Protagonisten Gandhi oder Tagore repräsentiert wird. Es wäre traurig, wenn wir dieses ganze Erbe den Hindu-Extremisten überließen, nur weil wir befürchten, unsere Romantik könnte sich mit dem decken, was die Europäer unter diesem Namen in ihren Geschichten hervorgebracht haben, und wir machten heute dieselben Fehler, welcher Art sie auch seien, die sie gestern gemacht haben. (111)

Diese Thesen Chakrabartys könnten auch in Zukunft zu produktiven Debatten führen.

Grenzen des Kapitals

Die beiden Artikel Die zwei Geschichten des Kapitals und Humanismus in einer globalen Welt, bringen dagegen nicht so viel Neues. Relativ umständlich will Chakrabarty zeigen, was von jeher gegen die primitiven Marxologen vorgebracht wurde: Das Kapital von Marx ist eine Abstraktion, die Grundprinzipien des Kapitalismus beschreibt, aber kein für alle Gesellschaften verbindliches Entwicklungsschema postuliert. Die Vorstellung, dass die Länder in der Peripherie sich gewissermaßen nur im Wartesaal der Geschichte befänden, gilt weitgehend als überholt. Auch der späte Marx wandte sich 1881 in seinen Entwürfe(n) einer Antwort auf den Brief von V. I Sassulitsch gegen jedes  lineare Fortschrittsdenken:

Ich möchte diesem Argument nur insofern Rechnung tragen, als es sich auf die europäischen Erfahrungen stützt. Was zum Beispiel Ostindien anbelangt, so ist es aller Welt, mit Ausnahme von Sir H. Maine und anderen Leuten gleichen Schlags, nicht unbekannt, daß dort die gewaltsame Aufhebung des Gemeineigentums an Grund und Boden nur ein Akt des englischen Vandalismus war, der die Eingeborenen nicht nach vorn, sondern nach rückwärts stieß. (3. Entwurf)

Chakrabarty rennt also einige offene Türen ein. Das gilt auch für seine Forderungen, man müsse praktisch werden, sowie den universalen Humanismus eines Frantz Fanon, Léopol Senghor und Aimé Césaire retten.

Interessanter finde ich dagegen seine Thesen zu Klimawandel und Geschichte, die in die Diskussion um die ökologischen Grenzen des Kapitalismus passen. Sofern die Menschen den Klimawandel beeinflussen und wir sogar von einem neuen Erdzeitalter, dem Anthropozän, sprechen könnten, habe das auch Auswirkungen auf das historische Denken. So werde beispielsweise die Trennung von Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte aufgehoben. Das Überleben der Spezies könnte ein Treibsatz für die Entwicklung einer neuen Kollektivität und einer neuen Universalgeschichte der Menschen sein. Chakrabarty geht dabei aber nur auf den Klimawandel, nicht aber auf die Verteilung und Endlichkeit anderer Ressourcen (Peak Oil, Peak Everything) ein, die einen erheblichen Umbau der Ökonomie nach sich ziehen wird.

Es wird deutlich, dass das Europa als Provinz schon jetzt ein zeitgeschichtliches Zeugnis ist, das sowohl eine einflussreiche Strömung progressiver Historikerinnen und Historiker repäsentiert als auch einen Zwischenstand ihrer Diskussionen gibt. Insofern ist es auch konsequent, dass der Band mit einem Interview mit Chakrabarty endet, der seine Biographie und intellektuelle Entwicklung zum Thema hat, die übrigens ganz typisch für Intellektuelle ist, die in den radikalen 1960er Jahren sozialisiert wurden.

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Eine Antwort to “Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz”

  1. Richard Heigl Says:

    Jürgen Krämer hat mich auf folgende Website hingewiesen: http://www.wwwebworks.de/xfn/oriental/subalterns.html.

    Dort findet man den lesenswerten Beitrag „Subaltern Studies 3.0: Entwurf eines Überblicks zum 30-jährigen Bestehen der Subaltern Studies unter besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland“

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